Pack den Sinn bei den Hörnern!

April 2020. Miroslava Svolikovas Text europa flieht nach europa arbeitet sich am Ursprungsmythos unseres Kontinents ab. Spoiler: Hier fließt Blut, aber nicht das der üblichen Opfer. Wir sprachen mit Anna Haas, Dramaturgin der Karlsruher Inszenierung des Stücks.

Das Stück von Miroslava Svolikova beginnt direkt mit einer Umkehrung des Mythos: Europa tötet den Stier, das heißt: den Gott, der sie entführen will. Wir bekommen es hier also mit einem anderen Anfang für Europa zu tun – als Figur, aber auch als Idee. Wie verstehen Sie ihn?

Anna Haas: Miroslava Svolikovas phönizische Prinzessin namens Europa ist kein Opfer wie in der bekannten mythologischen Erzählung – sie wird zur Täterin, indem sie den Stier mit der Spitze eines Haares ersticht und ein ungeheures Blutbad anrichtet. So wie auch der Kontinent Europa über die Jahrhunderte hinweg immer wieder in Blut getränkt war. Die Autorin spielt permanent – lustvoll und poetisch – mit der Verschiebung von Bedeutungen. Schon der Titel ist ja eine Art Wortspiel – in der Schwebe zwischen mythologischer Figur und Kontinent. Ganz bewusst lässt sie Chronologien, Stereotype, Vorurteile, Allgemeinplätze und Absurditäten assoziativ durcheinanderwirbeln, und das in einem rasanten Tempo.

"Ich habe das Blut des Stiers in den Sand gewischt“, sagt Europa, als sie von ihrer Tat erzählt. Aber auch: "Dieser Kontinent wird nicht in Blut getränkt." Dazu läuft das Ensemble bei Ihnen auf der Bühne von einem Spotlight zum nächsten, sucht also wortwörtlichen den richtigen Standpunkt. Kann man Miroslava Slolikovas Stück also auch als Reflexion über einen Kontinent verstehen, der von Anfang nicht weiß, was er ist und wo er steht?

Anna Haas: Ich verstehe es vielmehr als extrem präzise, lyrische, teils paradoxe Beschreibung von Momentaufnahmen – "ein dramatisches Gedicht in mehreren tableaus" nennt es die Autorin ja selbst. Sobald ein Bedeutungszusammenhang generiert wurde, verschiebt sich seine Lesart und wird in Frage gestellt. In der ersten Szene wischt Europa das Blut des Stieres in den Sand und gründet in nächsten Moment auf diesem Boden einen neuen Kontinent: "ich werde einen kontinent erschaffen, wo sich erde und himmel umarmen. wo platz ist für jeden, um seine wurzeln in die erde, und seine arme in die luft zu strecken. ein kontinent der reinen luft, ein kontinent der freien und freundlichen menschen.“ Ich muss an dieser Stelle immer wieder an Robert Menasses großartige Rede vor dem europäischen Parlament denken, in der er eindringlich beschreibt wie die Europäische Union aus den Eindrücken des Blutbades des Ersten und Zweiten Weltkriegs entstanden ist, um durch eine supranationale Staatengemeinschaft in Zukunft weitere Gemetzel zu verhindern. Auch Svolikova greift in ihrer Version des Mythos das Bild eines Blutbades auf, auf dessen Basis eine positive Utopie eines zukünftigen Zusammenlebens beschrieben wird. Doch bei Svolikova gibt es nicht nur eine Perspektive. Sie verwebt den antiken Mythos mit der Kontinental- und Ideengeschichte Europas und springt in ihren tableaus in verschiedene historische Situationen: Es gibt eine Karnevalszene, die an die Zeit rund um die Aufklärung erinnert und gleichzeitig tagesaktuell gelesen werden kann. Einen Konquistador, der an die Kolonialgeschichte Europas denken lässt und einen großen Knall, eine große Katastrophe. Auch das Motiv der Flucht spielt eine wichtige Rolle, wer darf Teil der Gemeinschaft sein und wer muss draußen bleiben – außerhalb der Grenzen?

In der Inszenierung von Alia Luque wird dieser Anfang in ein ebenso traditionsreiches wie umstrittenes spanisches Kulturgut übersetzt: Den Stierkampf. Allerdings erscheint der "Stier" bei Ihnen nicht sonderlich bedrohlich, sondern als kleiner Hund mit aufgesetzten Hörnern. Was bedeutet dieses Bild eines dekonstruierten Stierkampfs für Sie, dem die Inszenierung ja komplett treu bleibt?

Anna Haas: Alia Luque eröffnet ihre Inszenierung mit dieser durch die unverhältnismäßige Winzigkeit des Stiers extrem komischen Corrida und setzt das Spiel mit Bedeutungen auch in der Regie mit einem Augenzwinkern fort. Zugleich bietet das Bild des Stierkampfs die Arena für die Spielanordnung der Inszenierung. Eine Gruppe von fünf Schauspieler*innen in Original Torero Kostümen verkörpert alle Figuren des Stückes ohne sie zu bebildern. Jede*r der Fünf kann Europa sein. Moment für Moment sucht Alia Luque nach konkreten Situationen im Spiel, im Hier und Jetzt des aktuellen Theatermoments, die die großen Fragen des Textes sinnlich erfahrbar machen. Wer seid ihr? Und wer sind wir? Wer ist Teil einer Gesellschaft und wer wird ausgeschlossen? Auch die Zuschauer sind Teil der Gemeinschaft, die diesen Abend miteinander verbringt. Dabei arbeitet Alia Luque auch ganz bewusst mit aleatorischen Prinzipien, von denen die Schauspieler in jeder Vorstellung wieder neu überrascht werden. Es gibt keine sicheren Verabredungen und keine Absicherung. So springen beispielweise in bestimmten Passagen der Inszenierung die Spotlights nach einem Zufallsprinzip an und stellen die Spieler*innen immer wieder vor neue Herausforderungen, um sich wie so schön von Ihnen beschrieben, "den richtigen Standpunkt" zu erkämpfen... Das hat viel mit dem Thema des Textes zu tun, ist spielerisch und macht auch dem Publikum großen Spaß.

europa flieht nach europa 022 5bba21eec2abe7.59616780Claudia Hübschmann in Alia Luques Inszenierung © Felix Grünschloß

Miroslava Svolikova nennt ihr Stück im Untertitel ein "dramatisches Gedicht", womit schon eine gewisse Absage an herkömmliche Figurenzeichnung und klassische Dramaturgie angedeutet ist. Worin besteht die besondere Herausforderung, einen mitunter so assoziativen, sprudelnden Text für die Bühne einzurichten?

Anna Haas: Alia Luque arbeitet sehr choreografisch und zugleich sprachlich genau am Text. Sie verschafft sowohl den Texten und als auch den Körpern einen Raum, ohne die Situationen zu illustrieren. Ihr liegt das sportive und sprunghafte des Textes. Dass er Gedanken in den Raum wirft, sich aber gleichzeitig jeglicher Ausformulierung derselben verweigert. Neben "Humor, Verletzlichkeit, Scharfsinn, Ironie, Ambivalenz, und der starken Form" – schätzt Alia Luque an Svolikovas Stück, dass es der Regie "eine absolute Freiheit schenkt, da sie nicht zwingt, einer Handlung zu dienen oder eine Geschichte zu erzählen".

Das Interview führte Janis El-Bira

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