Autor*innenpreis
Natascha Gangl - Menschen im Wald
Ein Wald – der im Laufe des Abends zu verschwinden droht. In ihm drei Frauen auf Wanderung: die Lehrerin, die Bürgermeisterin und die Trafikantin. Was ist der Wald für sie? Was für die Menschheit? Sehnsuchtsort – vielbeschrieben, vielbesungen? Kollektives Lebenselixier, das es zu erhalten gilt? Oder einfach eine gewinnbringende Kapitalanlage? Über verschiedene Sprachstile und Sprechweisen von konkreter Poesie bis Mundart kreiert die Autorin Natascha Gangl in Überschreibung zahlreicher literarischer Quellen von Ernst Jünger bis zu den österreichischen Heimatromanen von Reinmichl eine Art hoffnungsvolles Requiem auf das Verhältnis von Mensch und Natur – poetisch, bestürzend und komisch. Eine Sprachsinfonie zwischen Anbetung und Abholzung.
Natascha Gangl schreibt Theatertexte, Prosa, Essays und erarbeitet in unterschiedlichen Kollektiven szenische Installationen, Hörstücke oder Live-Klangcomics, in denen sie die Grenze zwischen Sprache und Musik, verstehbarem und erfahrbarem Sinn auslotet. 2013ǀ14 war sie Hausautorin am Staatstheater Mainz. Natascha Gangls Arbeiten wurden mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet.
Zum Stückporträt: Menschen im Wald
Autor*innen und Stücke
.
Das Stückporträt: Natascha Gangl – Menschen im Wald
Leuchtend hervor tritt das Sternbild der Sense
von Elena Philipp
April 2020. Lieblingskleid und Taschenmesser, das Schöne und das Nützliche: Ein Kind packt seinen Koffer, erzürnt über häusliche Streitigkeiten. Und geht in den Wald. "Das war so… Witzig", versucht die Trafikantin eine Auslegung des markanten Vorgangs, mit dem Natascha Gangls "Menschen im Wald" beginnt. Witzig? Halt! So ein Waldgang ist kein Spaß, korrigiert die Lehrerin, die vielleicht das Kind gewesen ist. So ein Waldgang ist ein bedenklicher Ausflug. Über die Grenzen der körperlichen Kondition hinweg und "hinaus über alle uns vorgebahnten Wege". Natur als Gefahr oder Gefährtin? Ambivalent ist sie allemal in diesem Text, der den tastenden Irrgang seiner Figuren in sprunghaften, brüchigen Bewegungen nachvollzieht.
Prachtvolles Schimpfwortregister
Schon vor dem Aufbruch gen Baumbestand herrscht Orientierungslosigkeit: "Ja, aber wohin? … Und: Was machen wir hier eigentlich?", fragt unsicher die Bürgermeisterin als Dritte im Bunde. Welcher Weg ist der richtige? "War das erst rechts, dann links, dann links und dann wieder rechts?" Herausfinden werden sie es nicht, denn "Menschen im Wald" verzeichnet vor allem ein Fehlen: von individuellem wie gesellschaftlichem Richtungssinn. Gangl fügt ihre Protagonistinnen, deren sehr spezifische Berufsangaben keinen eindeutig ersichtlichen Sinn ergeben, in ein sprachliches Konstrukt voller Unterholz. Gedanken, Ideen und Assoziationen zum Wald sowie, auf einer abstrakten Ebene, zur Koexistenz von Mensch und Umwelt wuchern durch ihren Text. Wie Findlinge stehen dazwischen Versatzstücke gegenwärtiger Diskurse.
Dialektal verortet ist "Menschen im Wald" im Dreiländereck Österreich, Deutschland, Schweiz. Ganze Passagen stehen schwiizertüütsch oder österreichisch im Text und werden in Fußnoten akribisch übersetzt. Prachtvoll ist das Schimpfwortregister, das Gangl als gebürtige Österreicherin aufbietet, von Abzwickta und Aufpudler über Kaperltheaterstehreihsitza, Ooooaasch-Geige und Rehrbeitl bis zum Zornbinggl. Ihr Wald ist sprachlich wie ideell ein Gestaltwandler: Mal ist er Sinnbild der Romantik und wird als Sehnsuchtsort kitschig beschrieben wie eine Fototapete, mit Alpenglühen und Wipfelrauschen. Oder er ist Heimat, in der sich Zugehörigkeit als Verwandtschaft mit den ihn bewohnenden Wesen äußert. Auch für Nationaltümelnde stiftet er Sinn, wenn auch einen gänzlich anderen: Zaun drumrum, Grenzen dicht, um das "Einschleichen ins Eigenheim" zu verhindern, ruft "ein Chor unerbittlicher Stimmen".
Die poröse Schicht der Ratio
Knapp unter der Oberfläche brodelt es im Text. Eruptiv entladen sich Ängste und Wut, kollektive Verblendungen, Träume und Sehnsüchte. Als seien Buchstaben, Wörter und Sätze der dünne Firnis der Zivilisation, die poröse Schicht der Ratio, durch die die Emotionen brechen. Aufgeheizt wie der Diskurs in den letzten Jahren sind die Interaktionen der Figuren: "Geh holt die Goschn", ereifert sich die Trafikantin und praktiziert gemeinsam mit der Bürgermeisterin das Schimpfwortregister an der Lehrerin, bis diese den sozialen Rückzug verkündet: "Grindschlapfen! Ich geh in Wald!"
Der Waldgang als Verweigerung gesellschaftlicher Zumutungen? Rein privat ist diese Strategie nicht. Eminent politisch wirkt, wozu die drei Figuren aufgerufen sind: Entscheidungen zu treffen und Risiken abzuwägen, ohne die relevanten Parameter zu kennen. "Ich weiß auch nicht wie das Gelände beschaffen ist, auf das ich mich da zubewegen soll", zweifelt die Lehrerin. Das Leben als Wette auf eine ungewisse Zukunft: die conditio humana durchwebt den Text. Irritierend folgenlos aber bleiben die Überlegungen der drei Figuren. Was immer geschieht, es liegt offenbar außerhalb der Gestaltungsmacht der Einzelnen, die üblicherweise in Theatertexten das Wort führen. Wofür oder wozu sich die Figuren entscheiden (sollen), bleibt so offen wie ihre Vergangenheit und ihre Zukunft. Die Drei sind diskursive Hohlformen, die von ihren Spielerinnen mit Stimme und Physis gefüllt werden müssen.
Klang und Rhythmus sind zentrale Parameter des Stücks. Gangl experimentiert mit Lautmalereien: "NNEEEAAOOOWWW" fliegt ein Flugzeug über den Forst, "Zitrivi-si SWI-SWI-SWI-SWI ziwusö si ZRRRRRRR SWI-SWI-SWI sijö-ZERRRRR siWI" lautet die Lehrerin. Ist’s eine Vogelstimme oder eine Neudichtung von Schwitters’ Ursonate? Man sieht schon die Notenständer auf der Bühne stehen – und zugleich ist Gangls Text als Absprungrampe für eine sich maximal frei entfaltende Regiephantasie vorstellbar.
Akustisch, graphisch, konzeptuell reichen die Wurzeln weit in benachbarte Kunstformen. Das Personenverzeichnis führt mit ernstem Humor "eine Fassung des Textes als Textfläche in Baumform" auf, die aufführungsbegleitend in einer Galerie ausgestellt werden könnte, und einzelne Passagen sind optisch als Tannenbäume gesetzt. Entgrenzung heißt die künstlerische Devise. Und so fragt man sich anfangs, warum Gangl überhaupt noch Figuren benennt: Psychologische Motivationen sind perdu, bewegt ist das Protagonistinnen-Trio von Stimmungen und Ahnungen, mitunter auch von Formulierungen, die an Jelineks sprachströmende Worttransformationen erinnern.
Kulturgut wird Kompost
Vorstellen kann man sich die Drei als Teilnehmerinnen einer Studie: Wie bewährt sich das veraltete Bewusstsein moderner Individuen in einer hypervernetzten Welt, in der nicht mehr Einzelne agieren, sondern Menschen, Tiere, Dinge in Handlungszusammenhängen, wie es die soziologische Akteur-Netzwerk-Theorie konzipiert? Sich ihrer Vernetztheit lediglich ansatzweise bewusst, arbeiten sich Bürgermeisterin, Lehrerin, Trafikantin an nicht mehr wirkmächtigen Modellen von Identität, Entscheidung oder Handlung ab. Hilflos wirkt das: Dialogisch versuchen sie die Auswüchse gesellschaftlicher Diskurse zu bändigen, die Gangl vor ihnen aufhäuft – Einwanderungsphobien, Landlust, Rechtsextremismen, indigener Widerstand. Kulturgut wird Kompost für ein Denken, das, noch vergeblich, nach neuen Narrativen sucht.
Gewichtige Intertexte nennt die Autorin im Abspann: Thoreaus Abgeschiedenheitsnotate "Walde"“ und Ernst Jüngers Partisanenmanifest "Waldgang" sowie Philippe Descolas Aufruf zu einer politischen Ökologie, "Relativer Universalismus. Anthropologie und Kulturelle Diversität". Komisch wird’s aber auch: Für Theaternerds verfremdet Natascha Gangl Tschechows "Kirschgarten" – die Bürgermeisterin möchte die Lehrerin zum Wirtschaftswald mit Ferienbungalows überreden, aber die verteidigt den romantischen Aufenthaltsort –, und bedrohlich-surreal spukt Kafkas "Schloss" durch den Wald. Wie zu erwarten scheitert letztlich jeglicher Ordnungsversuch. Denkansätze bleiben in ihren Anfängen stecken, Handlungen werden bestenfalls evoziert.
Deutlich wird: Der Mensch ist nicht mehr die Krone der Schöpfung, sondern nur ein Lebewesen unter vielen, in einem ökologischen Gefüge, welches zu verstehen er (zumindest in seiner westlichen Ausformung) verlernt hat. Ausgebeutet, mag ‚die Natur‘ sich rächen. Wie Prospero zu Beginn von „Der Sturm" orchestriert Natascha Gangl ein apokalyptisches Finale: Machtvoll fegt ein onomatopoetischer Orkan durch den Bannwald. "Bersten! Brechen! Knattern! Krachen! Knicken Krachen Poltern“, kündigt sich der Sturm an. "Fapstrrrrr PTrrrrrrAh! BuuuffffaaAAA KkkkkkKAAAuuuuOOO PPPCCCCCHHHHHHH!", wütet er. Der tausendstämmige Forst sinkt zu Boden. Und: "Das Sternbilder der ‚Sense‘ tritt leuchtend hervor!" Die Katastrophen, die kommen: Lieblingskleid und Taschenmesser werden nichts nützen, wenn die Welt wie wir sie kennen zersplittert. Apokalypse jetzt. "TATÜÜÜTATA."