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Philippe Heule - Das Haus brennt
Sonntag ist Zeit für die Familie: Quality Time! Anstatt vor dem Fernseher herumzulungern, wird bei Familie W. der allwöchentliche Tatort live im Wohnzimmer miteinander gespielt. Michael W., Vater und Familienoberhaupt, ist Privatdetektiv und bereichert das außergewöhnliche Krimierlebnis gerne mit seinen Alltagserfahrungen. Aber was ist mit seinen Lieben eigentlich los? Irgendwie ist alles im Umbruch – Tochter und Sohn sind auf dem Sprung ins eigene Leben und auch Ehefrau Celine will sich Reflexzonen massierend nun endlich selbstverwirklichen. Ist sein Status als Ernährer und Patriarch etwa gefährdet? Beim Kerzenausblasen am 18. Geburtstag des Sohns kommt es zum Showdown und die Grenzen zwischen Spiel und Realität drohen zu verschwimmen … Eine irrwitzige schwarze Komödie über Macht und Männlichkeit, Verdrängung und Manipulation.
Philippe Heule ist Autor, Regisseur und Schauspieler. Er ist Begründer des Performance-Kollektivs helium x. Sein Stück "Die Simulanten" wurde 2016 am Theater Dortmund als Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen uraufgeführt. In der Spielzeit 2015ǀ16 war Phillipe Heule Hausautor am Theater Basel und 2018 erhielt er den Else-Lasker-Schüler-Stückepreis..
Autor*innen und Stücke
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Das Stückporträt: Philippe Heule – Das Haus brennt
von Sophie Diesselhorst
"Im 5. Akt kommt es zur Katastrophe." Diese Ankündigung stellt der Schweizer Autor Philippe Heule seinem Stück "Das Haus brennt" voran. Das macht neugierig. Doch das Stück endet schon nach Akt 4, und die Katastrophe findet nur im Kopf der Leserin statt – bis dahin allerdings hat Heule der Vorstellungskraft ausreichend desaströsen Stoff geboten.
Schwerkraft der Mustergültigkeit
Das Haus, von dem im Titel die Rede ist, besteht vor allem aus einem Wohnzimmer, in dem sich eine Musterfamilie versammelt: Michael W. (46), Celine W. (43) und ihre Kinder Lewis (feiert im Laufe des Stücks seinen 18. Geburtstag) und Sarah (ein Jahr jünger). Eine Sitcom-Atmosphäre ist schnell etabliert, wenn die Familie in gespreiztem Duktus ihre Parfüms auswertet – die Männer tragen Ferrari, die Frauen tragen Düfte von Stars, mit denen sie ihre Vornamen teilen (Celine Dion und Sarah Jessica Parker). Und im Leser*innenkopf stellt sich bei den affirmativen Beschreibungen der Essenzen, die sprachlich aus süßlichem Werbe-Jargon schöpfen, schnell eine Benebelung ein, als wäre man bei Douglas eingesperrt worden.
Doch das eigentliche Thema des familiären Zusammenseins ist noch grauslicher – denn seit der Fernseher kaputt gegangen ist, zelebrieren die W.s allsonntäglich eine "Tatort-Rekonstruktion". Sie spielen ein Verbrechen nach, Papa Michael, der sich schnell als Mansplainer der übelsten Sorte entpuppt, leitet das Spiel an, und die Kinder dürfen den Prolog sprechen: "Lasst uns auch diesmal wieder einen grausigen Tathergang aus der unmittelbaren Nachbarschaft zu Gemüte führen als eine Art Abendunterhaltung, die auch der gedanklichen Anregung dient und Aufmerksamkeit denjenigen Gefahren schenkt, die in den zwischenmenschlichen Bereichen lauern, wenn gewisse Verluste auf der moralischen und materiellen Ebene stattgefunden haben. Vorhang auf!" Es folgt – in abgewandelter Form – stets die Geschichte eines Familizids, bei dem ein eifersüchtiger Gatte Frau und Kinder ermordet; die Familien in den Verbrechens-Geschichten ähneln der Familie, die sie performt, gespenstisch.
Es gehe ihm um "die Familie als hysterische Struktur, als verzweifelt-komische Angelegenheit", schreibt Philippe Heule im E-Mail-Interview – "die Familie als patriarchal-kapitalistisches System, das zwar als Modell ausgedient hat (bzw. nicht der Vielfalt und Komplexität der Gegenwart entspricht) und dennoch permanent weiter beworben wird, gar in radikalisierter Form." Noch immer stehe die heteronormative Familie für einen Ort der Sicherheit, "dabei geht die grösste Gefahr ja nicht von Fremden, sondern von den Intimpartnern aus."
Zustände der Leere
Schon in seinem Stück Retten was zu retten ist nahm Heule die soziale Einheit Familie aufs Korn, da war es noch eine Fake-Familie, deren Idyll für einen Werbespot inszeniert ist. Nun handelt es sich in "Das Haus brennt" um eine echte Familie, an der einerseits die Schwerkraft ihrer Mustergültigkeit zerrt – andererseits wirken immer stärkere Fliehkräfte bei Celine, Sarah und Lewis, je autoritärer Vater Michael auftritt. Celine fühlt sich ausspioniert, als ihr Mann sie verdächtigt, eine Affäre zu haben – und beginnt eine Ausbildung als Fußreflexzonen-Masseurin, für die sie wochenendweise verreisen muss. Was den Betrugs-Verdacht natürlich ins Unermessliche verstärkt.
Obwohl Celine sich immer freier fühlt ihrem Mann auch mal zu widersprechen, bleibt die interfamiliäre Kommunikation im Grundsatz passiv-aggressiv. "Das Feld der potentiellen Behandlungen ist umfassend und beinhaltet beispielsweise Kopfschmerzen, Haltungsschäden, Gelenkbeeinträchtigungen, Verstopfungen, Erkrankungen im Urogenitaltrakt, Funktionsstörungen im Atmungs- und Herzbereich, Zustände der Leere, der Abgeschlagenheit, Depressionen und tiefsitzender Kummer. Manchmal muss der ein oder andere Punkt gedrückt werden, um das ganze System wieder in eine Harmonie zurück zu führen und deshalb würde ich wirklich gerne die Reflexzonen-Massage erlernen. Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit“, so stellt Celine ihren neuen Berufswunsch vor. "Bravo Mama, also wie mir scheint eröffnen sich dir in diesem Feld ganz neue Handlungshorizonte, die ich nur begrüssen kann", beglückwünscht sie ihre Tochter, und Celine: "Vielen Dank, das ist wirklich eine liebe Rückmeldung."
Geradezu wohltuend ist es, wenn auf Seite 36 von 57 offene Gereiztheit ausbricht – als hätte endlich einmal jemand diesen Raum gelüftet, den niemand je zu verlassen scheint. Außer Papa, wenn er allabendlich zu einer mysteriösen beruflichen Beschattungs-Aktivität aufbricht, aus der sich auch seine "Tatort-Rekonstruktionen" speisen.
"Herrgott, wo ist denn dieses verflixte Ding", ruft er nun also, auf der Suche nach diesem speziellen Feuerzeug, mit dem er die Kerzen auf dem Kuchen zu Lewis' 18. Geburtstag anzünden will. Die Kuchen-Zeremonie muss dann nochmal wiederholt werden, weil Sarah nicht richtig mitgefilmt hat mit ihrem Handy – und Papa Michael, der sie als Regisseur anleitet, ist geradezu besessen davon, dass das Ereignis dokumentiert wird, und zwar ordentlich. Die anderen lachen zusammen mit der Leserin über die absurde Szenerie – die Stimmung scheint zu kippen, aber Michael hegt sie schnell wieder ein in den Familienkäfig mittels male fragility:
"Celine W: Niemand hat dich ausgelacht, Michael, aber die aufgebaute
Überspannung muss sich manchmal in einem Lachen auflösen.
Michael W. Diese Überspannung bringt mich viel eher zum Weinen. Was soll das
denn? Das macht mich so traurig."
Sartre goes Tarantino
Überspannung, Anspannung und Entspannung ziehen sich motivisch durch das ganze Stück – kein Wunder bei dem engen Raum, auf dem Heule seine Figuren hält. In Kritiken zu Heules Stücken wird immer wieder der Vergleich zu Sartres "Geschlossener Gesellschaft" gezogen. Heule kann mit diesem Vergleich etwas anfangen – Sartres Stück habe ihn sehr geprägt "wie mich überhaupt das absurde Theater sehr beeindruckt und beeinflusst hat". Zu Sartre kommt aber bei ihm noch ein Schuss Tarantino: "Für mich geht es im Theatermachen oftmals darum zerstörerische Strukturen bzw. Gewalt zu beschreiben und diese dadurch dingfest zu machen. Ich möchte keine Reproduktion von Gewalt, sondern eine Überzeichnung ins Satirische, sodass eine Distanznahme möglich ist. Die ästhetische Bearbeitung von Gewalt ist für mich ein Festmachen, ein Ausstellen und deshalb ein Entkräften von Gewaltzusammenhängen", erklärt Heule.
Physische Gewalt bleibt in "Das Haus brennt" im Reich der Fantasie – in der Fantasie des Vaters mit seinen "Tatort-Rekonstruktionen". Und der Fantasie der Leserin, wenn sie eben aufgefordert ist, sich den fünften Akt als Katastrophe vorzustellen. Die vier Akte, die Heule ausgeschrieben hat, spielen jeweils an einem Abend: Akt 1 ist die Tatort-Rekonstruktion, Akt 2 Sarahs Kreuzfahrt-Präsentation, Akt 3 Lewis’ 18. Geburtstag, bei dem zur Versöhnung eine weitere Tatort-Rekonstruktion performt wird. In Akt 4 hat Familie W. sich wieder einen Fernseher angeschafft, auf dem zu sehen ist, wie die Erde in einem Flammeninferno versinkt. Gleichzeitig zerbröckelt die Familie, die Stimmung ist vergiftet, Papa verlässt das Haus vorzeitig zur Beschattungs-Arbeit. Nun ist es Mutter Celine, die vorschlägt, dass man gemeinsam eine Geschichte performt. Eigentlich ein optimistisches Ende – muss man also im Titel nach der Katastrophe suchen? Wird der Brand, dessen Bilder über den Bildschirm flimmern, auf das Haus übergreifen? Die Zerstörung, die bisher nur imaginiert wurde, real werden?
Philippe Heule selbst sagt dazu nur soviel: "Ich beschreibe eher den Untergang als den Aufbruch, suche eher die Dystopie statt die Utopie. Ich wünsche mir vielleicht, dass im Umkehrschluss das Publikum selbst nach einer möglichen Utopie sucht."