Die Welt in unseren Händen

von Sophie Diesselhorst

April 2020. "Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein", nölten Tocotronic 1995 auf ihrem legendären Debütalbum "Digital ist besser". So zukunftsweisend der Albumtitel war, so veraltet ist die vermeintlich vergebliche Sehnsucht des Hit-Songs nach einer Jugendbewegung heute.

25 Jahre später grenzt man sich als Jugendliche*r wohl eher vom Mainstream ab, indem man NICHT Teil einer Jugendbewegung sein will – indem man nicht zu Fridays for Future geht oder in den Sozialen Medien dieser oder jener Strömung folgt. Diesen aktuellen Geist des Empowerment tragen auch die drei Produktionen in sich, die dieses Jahr beim Heidelberger Stückemarkt um den JugendStücke-Preis konkurrieren. Julia Wissert entwickelt in "2069 – Das Ende der anderen" (Schauspielhaus Bochum) aus einer postapokalyptischen Situation ein utopisches Zukunftsszenario, "Frauen und Fiktion" schaffen es in "Care 3.0" (Premiere beim Treibstoff Festival in Basel) aus dem undankbaren Thema Care-Arbeit eine glamouröse Show zu machen, und Milan Gather bringt in seiner One-Man-Show "Astronauten" (JES Stuttgart) einen Mobbing-Täter mit raffinierten Mitteln dazu sich seiner Schuld zu stellen.

Mash-up aus Satzfetzen

"2069 – Das Ende der anderen" beginnt, indem die beiden Darsteller*innen in Seuchenschutzanzügen eine Sperrzone entern: Der eiserne Vorhang geht hoch und enthüllt ein chaotisches Postapokalypse-Szenario mit Plastikstühlen. Was hier vergiftet wurde, ist allerdings nicht das Klima, sondern die Sprache. Die beiden Spielerinnen of Colour reden zunächst gar nicht, sondern verständigen sich nur mit leisen Lauten und Gesten. Sie verschaffen sich einen Überblick, soweit das möglich ist, und lassen das Publikum erst einmal einfach mit eintauchen in die rot beleuchtete Atmosphäre, in der sie sich nun eine neue Welt schaffen müssen – sie scheinen die einzigen Überlebenden zu sein.

Presse 2069 c Birgit Hupfeld 6Jing Xiang und Gina Haller in Julia Wisserts "2069 – Das Ende der Anderen" © Birgit Hupfeld

Nachdem sie die Plastikstühle gestapelt und auf ihren beiden Thronen Platz genommen haben, folgt die große Überraschung: Sie können ja sprechen! Allerdings wird das, was als harmlose Konversation beginnt, schnell zu einem Mashup aus Satzfetzen, so dass sie wirken wie zwei Bots, nicht gesteuert von menschlichem Bewusstsein, sondern von einem toxischen Algorithmus: "Du sprichst aber gut!" – "Deeeeuuuutsch" – auf diesem "Austausch" bleiben sie zum Beispiel für ein paar Wiederholungen hängen. So ganz sind auch sie der Sprach-Vergiftung nicht entkommen. Und bei dieser Sprachvergiftung scheint es sich vor allem um eine rassistische zu handeln.

Aber der seltsame Dialog wirkt als Detox, und die beiden berappeln sich, finden wieder zurück in den träumerischen Anfangszustand, entdecken Spiegelfliesen im Gerümpel, mit denen sie sich selbst und einander betrachten und Lichteffekte herstellen. Sie reflektieren, im wörtlichen Sinn. Erst ganz zum Schluss wird die Grundsituation des Abends in einem schnellen, eingespielten Vortrag erklärt, und die beiden ziehen sich in ein Zelt zurück und spielen ihre Aufgabe ans Publikum weiter: "Auf geht’s, das nächste Level wartet!" Das nächste Level hat ja aber eigentlich schon die Inszenierung selbst hergestellt – die ihren Titel im Übrigen aus einer demografischen Berechnung bezieht: 2069 ist das Jahr, in dem es mutmaßlich zum ersten Mal mehr People of Colour als weiße Menschen in Deutschland geben wird. "Die Vorstellung, in einer Zeit zu leben, in der ich vielleicht andere Rollenvorbilder von Schwarzen Menschen gesehen bzw. überhaupt Vorbilder gehabt hätte, das fände ich schon ganz interessant“, sagt Julia Wissert, die ab diesem Jahr als erste schwarze Frau (in Dortmund) ein Stadttheater leiten wird, im Interview zum Stück. "Oder die Aussicht auf eine Zeit, in der Schwarz und deutsch zu sein eine Realität für alle Menschen ist."

Castingshow für Care-Arbeiter*innen

Auch "Care 3.0" von „Frauen und Fiktion“ endet mit einem Appell ans Publikum, der die Erkenntnisse der vorhergegangenen Show zusammenfasst in dem Satz: „Wenn wir zu einer wahren Solidarität kommen wollen, müssen wir uns klarmachen, dass alle Menschen zeitweise auf Hilfe angewiesen und zeitweise für andere verantwortlich sind.“ Dementsprechend ging es vorher sowohl um die Care-Arbeit, die Eltern und Erzieher*innen an Kindern leisten, als auch um die von Angehörigen und Pfleger*innen alter und kranker Menschen. Eine Hebamme, ein Altenpfleger, eine Tochter, die sich um ihren dementen Vater kümmert, beschreiben ihren Alltag, und die sechs Performer*innen gehen mit verschiedenen Theatermitteln darauf los. Mal spielen sie die Interviewaufnahmen ab und bewegen dazu die Lippen, mal setzt sich ein*e Performer*in ins Publikum und spricht ihren Text, als käme er aus den Reihen der Zuschauer*innen. Die Geschlechterrollen werden umgekehrt, wenn zum Beispiel ein*e Performer*in, den*die das Publikum wohl mehrheitlich als Mann definieren würde, über ihre Schwangerschaft spricht und die Geburt beschreibt.

2 190826 Treibstoff Care 3.0 234 finalCare 3.0 von "Frauen und Fikton" © Flavio Karrer

"Wir wollen die Genderrollen in der Careworld verqueeren", sagen Frauen und Fiktion in einem Video-Statement zum Stück. Sie geben ihrem Thema den Rahmen einer Castingshow à la RuPaul's Drag Race, bei der es zum Beispiel auch einen LipSynch-Contest gibt. Die Alltags-Darstellungen werden mit Tanz-, Sing- oder Spiel-Challenges verbunden, die Kostüme werden immer opulenter, die Pailletten funkeln um die Wette. Die Performer*innen zeigen immer neue Fähigkeiten, sie multitasken – wie die Menschen, um die es geht: die Altenpfleger*innen, Hebammen, Eltern. „Ich bin doch eine Heldin!“, sagt der*die Hebamme, treibende Musik setzt ein, der Satz wird zur Hymne, zu der er einen Geburtstanz im Glitzeranzug vollführt. Deutlicher kann man nicht machen, dass das Multitasking der Care-Arbeiter*innen eine Leistung ist, die öffentliche Anerkennung verdient, Applaus! Und die Auflösung von Genderrollen, die Verqueerung, macht sie alle gleich und bildet so das Fundament für die Solidarität, die die Performer*innen beschwören, indem sie einander mit liebevoller Aufmerksamkeit abwechselnd die Bühne frei machen für die Solo-Nummern.

Astronaut auf Abwegen

Auch das dritte eingeladene Stück „Astronauten“ von Milan Gather jubelt seinem Publikum ein schwieriges Thema unter – indem es ein anderes vortäuscht. In einem kleinen Vorwort zum Stücktext der Klassenzimmer-Fassung empfiehlt der Autor sogar, "Astronauten" als "verstecktes Theater" aufzuführen: "Das heißt, die Schulklasse weiß im Idealfall nicht, dass Theater kommt. Nur der/die Lehrer*in ist eingeweiht und im Vorhinein wurde abgesprochen, was er/sie wissen und tun muss."

Auch die Bühnen-Fassung behauptet zunächst das Thema Berufswahl – "How to become … Astronaut" ist die Überschrift des Vortrags, Autor Milan Gather spielt das One-Man-Stück in der Uraufführung am JES Stuttgart, wo er Mitglied des Schauspiel-Ensembles ist, selbst und hat seinen Astronauten-Anzug mitgebracht und ein Gurtsystem, mit dem man sich in die Schwerelosigkeit hieven kann. Er berichtet von der harten Aufnahmeprüfung mit 8000 Bewerber*innen und gibt Beispiele schwieriger Gedächtnis- und Konzentrationstests. Der kurze Image-Film, in dem er bläulich beleuchtet zu erhabener Musik davon spricht, wie geehrt er sich fühlt, in der ESA ausgebildet zu werden, unterstreicht noch: Dieser Job ist wenigen vorbehalten, um Astronaut zu werden, muss man ein Supermensch sein.

JES Astronauten 1 Foto Jan MerkleAutor und Schauspieler Milan Gather in "Astronauten" © Jan Merkle

Gerade als man sich fragt, ob es dann so viel Sinn ergibt, diesen Beruf in einem Vortrag für eine ganz normale Schulklasse vorzustellen, ob es nicht wichtiger wäre, die Jugendlichen zum Beispiel als künftige Pflegekräfte anzuwerben, bekommt die heile Welt des Astronauten M. Gather einen Sprung: Denn er muss zugeben, dass er neulich bei einer Tauch-Übung eine Kollegin festhalten sollte und unwillkürlich losgelassen hat – und dieser Moment des Versagens führt ihn zurück in seine eigene Kindheit, in die Schulzeit, als er einen Mitschüler so lange gemobbt hat, bis der nach den Sommerferien nicht mehr zur Schule kam – ihn gar einmal an den Beinen aus dem Fenster gehalten hat. Damals hat er nicht losgelassen, aber der Moment holt ihn jetzt wieder ein.

Der Supermensch stellt sich seiner Vergangenheit als Supermobber. Eigentlich folgt er damit ja gerade dem Motto, das sein Astronauten-Lehrer ihm vorgegeben hat: "Be yourself!2 – "Sei du selbst!" Ob er seine Ausbildung nach dem Vorfall mit der Kollegin abschließen kann, steht in den Sternen, muss er vor den Schüler*innen schließlich zugeben – und führt ihnen zum Schluss dann aber doch noch den Schwerelosigkeitsmechanismus vor, als wäre nichts gewesen. Nur kann einem nun, wenn er darin knapp über dem Bühnenboden hängt, der Gedanke kommen: Ist er etwa Astronaut geworden, um in Verantwortungslosigkeit zu schweben?

Neue Arbeitsweisen

Keines dieser Stücke macht es dem jungen Publikum leicht, alle drei halten sich nicht mit Träumen auf, sondern rufen laut und deutlich: Nehmt euer Leben und die Welt selbst in die Hand. Vielleicht hat das auch etwas mit ihrer Entstehungsweise zu tun: Sowohl "2069 – Das Ende der anderen" als auch "Care 3.0" sind kollektive Arbeiten, in denen alte Theater-Hierarchien keine Rolle mehr spielen – Julia Wissert hat ihr Stück mit den beiden Schauspieler*innen zusammen entwickelt, Frauen und Fiktion arbeiten stets im Kollektiv, bei ihnen gibt es gar keine*n Regisseur*in. Und auch Milan Gather steht als Schauspieler, der sich seinen Text selbst schreibt, für einen Aufbruch zu neuen Arbeitsweisen im Theater. Arbeitsweisen, wie sie die bewegten Jugendlichen, die heute massenweise zu "Fridays for Future" gehen, wohl schon als selbstverständlich voraussetzen werden, wenn sie ins Erwachsenen- und Berufsleben eintreten.

 

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