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Yade Yasemin Önder - Die Worte gehören uns
Lale ist Mamas Sprache fremd. Ihr Bruder Lilo übt mit ihr Worte, Zahlen und Zeiten. Und auch das wunderbare Lieblingslied von Mama – doch all das will einfach nicht in Lales Kopf. Lale, Lilo, Mama und Papa wohnen irgendwo in Deutschland. Früher hat Mama als Journalistin in der Türkei gearbeitet. Doch jetzt darf Mama nicht mehr schreiben. Papa arbeitet im Friseursalon und geht immer wieder an die Decke, wenn er merkt, dass Mama doch heimlich Worte zu Papier bringt. Bis eines Tages alles verschwindet: keine Möbel, kein Dachboden – auch Mama ist wie vom Erdboden verschluckt. Kurzerhand machen sich die Kinder auf die Suche nach ihr. Dabei durchqueren sie ein Meer aus Buchstaben und fliegen mit der einzig gebliebenen und zum Leben erwachten Couch quer über Europa. Können sie Mama wiederfinden? Das Stück vereint Themen wie Sprache, Identität und Heimat mit den politischen Fragen der Freiheit. Türkische und deutsche Passagen wachsen zusammen zu einer eigenen und verbindenden Poesie.
Yade Yasemin Önder legt mit "Die Worte gehören uns" ihr zweites Theaterstück vor. Mit ihrem ersten Text "Kartonage" war sie bereits 2017 zu den Autorentheatertagen Berlin eingeladen, in deren Rahmen das Stück am Deutschen Theater uraufgeführt wurde.
Zum Stückporträt: Die Worte gehören uns
Autor*innen und Stücke
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Das Stückporträt: Die Worte gehören uns – Yade Yasemin Önder
Fantastische Reise um die Welt
von Simone Kaempf
Schweigen und Sprachlosigkeit, die in Familien herrschen, die Migration, Flucht oder traumatische Verluste erlebt haben, können wohl am wenigsten die Kinder lösen, zumindest nicht intellektuell. Kinder lernen, dass man bei den Eltern lieber nicht nachfragt und bestimmte Grenzen nicht überschreitet. Selbst wenn sie eine klare Sicht auf Familiengeschichte und deren Kümmernisse haben, schweigen auch sie. Mit dem Heranwachsen ziehen sie sich in eine eigene Welt zurück, reagieren mitunter aufmüpfig - so realitätsangelehnt skizziert auch Yade Yasemin Önder in ihrem Theaterstück "Die Worte gehören uns" ihre beiden Protagonisten.
Harte Realitätsbruchstücke
Zwei Geschwister, Lilo und Lale, stehen im Vordergrund. Der Bruder Lilo ist eher streitlustig, die Schwester Lale die Altkluge, aber beide verbindet, dass sie sich über die familiären Schwierigkeiten nichts vormachen. Der Vater arbeitet zuviel und kümmert sich um die Familie mehr schlecht als recht. Die Mutter, einst eine Journalistin, ist verstummt und die große Abwesende. In der Nacht schreibt sie zwar noch seitenweise. Aber nur noch Gedichte, wissen die Geschwister. Beschriebenes Papier, dass der Vater für gefährliches Zeug hält und im Streit aus der Fenster wirft. Das Papier segelt durch die Luft, Buchstaben lösen sich krachend zu Boden - und das Stück entwickelt eine überraschende Leichtigkeit. Denn aus den harten Realitätsbruchstücken schickt Önder die Kinder auf eine Reise, die fast märchenhaft wirkt, das Irreale sucht, aber doch nicht rosarot ausmalt. Auf einer Art fliegenden Teppich starten die Kinder. Der Teppich ist eigentlich das Sofa, das sich aus dem Cellophan schält, auf diese Weise seine Flugfähigkeit gewinnt und mit den Kindern startet.
Auf ausgeklügelt fantastische Weise geraten hier also die Verhältnisse in Bewegung. Ständig verrücken Möbel, verschwinden diese wie von Geisterhand und tauchen wieder auf. Buchstaben beginnen zu schweben. Vögel entführen Buchstaben, erst einzelne, dann ganze Worte. An anderer Stelle erobern sich die Kinder die Buchstaben zurück. Der Titel "Die Worte gehören uns" ist wortwörtlich zu verstehen. Es geht um die Bedeutung und das Verteidigen seiner Sprache. Gibt es in der erdrückenden Elternwelt wenig Platz für ihre Erkundung, nimmt das auf der Abenteuerreise umso mehr Fahrt auf. Surreal verspielte Sprachspiel-Erfindungen entwickelt der Text, Bilder voller kindlicher Phantastik. Buchstaben, Wörter, Sätze fliegen durch die Luft, tauchen unter, werden gerettet, versteckt oder prasseln wie Munition. Önder schöpft szenisch aus dem Vollen, erfindet Begegnungen mit Sprache, in denen bestes Regie-Futter steckt.
Poetologie des Schreckens
Yade Yasemin Önder wurde 1985 in Wiesbaden geboren und ist dort aufgewachsen. Ihr Vater, der aus der Türkei stammt, versuchte ihr als Kind Türkisch beizubringen. "Aber ich spreche es schlecht. Das ist etwas sehr Persönliches. Es hat auch etwas mit mir gemacht, dass ich die Sprache nicht gelernt habe." Ein Echo davon ist ins Stück eingeflossen. Auch das Mädchen Lale ringt mit der türkischen Sprache, die es doch durchaus schon einmal konnte, wie alle behaupten. Die Muttersprache ging ihr verloren, als die Familie das Land verließ und sie erst einmal verstummte. Wo andere Dramatiker*innen angesichts des Migrationsthemas nach dem Authentischen streben würden, bewegt sich Önder in die andere Richtung, unterwandert sprachlich und szenisch die erstarrte familiären Situation. Die Märchenwelt gerät fast klassisch zur Fluchtwelt, ein hinter dem Spiegel-Sein, das Läuterung und sogar Heilung verspricht.
Das fliegende Sofa spielt dabei eine nicht unwesentliche Rolle. Nachts schläft die Mutter darauf. Wie als psychologische Wunschvorstellung entpuppt es sich nun als Quasselstrippe. Spricht soviel wie die Mutter schweigt, fackelt nicht lange und steht mit magischen Kräften als Retter zur Seite. Und Rettung braucht es. Denn wie in jedem Märchen geht es auch um Bedrohung, der man ausgesetzt ist. Die Gefahr überträgt Önder in schönste Poetologie und erzählt den Schrecken der Kinder in atemloser Kurzdiktion: "und auf geparkte autos rasseln / siebzehn punkte und ein komma / und auf das dach von edeka / kracht ein großes t und k / und vor uns im schnee / zerbricht ein kleines h / und dann landen zwanzig fragezeichen / vor unsren füßen und wir schreien."
Verloren geglaubte Mutter(sprache)
Mit ihrem Stück "Kartonage" war Önder 2017 zu den Berliner Autorentheatertagen eingeladen. Das Erstlingswerk zeigte bereits ihr Faible für surreale Settings und starre Familienkonstellationen, die sie in formalen Spielen aufbricht. Ort der Handlung ist ein Karton, in dem sich eine Familie von der Außenwelt und der Gegenwart abgeschottet hat. In einer Szene fliegt eine Figur regelrecht aus dem Karton und damit aus dem Stück. "Ich mag es, wenn sich Gesetzesmäßigkeiten aufheben und ein fantastischer Raum entsteht", sagt die Autorin. In solchen Erzählwelten verortet Önder auch in "Die Worte gehören uns" sehr reale Gefühle: Stillstand innerhalb der Familie, Heimatverlust und die Leere, die einhergehen kann, aber auch die Probleme zwischen Kindern und Eltern, die durch Sprachschwierigkeiten entstehen.
"Die Worte gehören uns ist“ ist ursprünglich als Auftragswerk fürs Kinder- und Jugendtheater entstanden mit der Ausgangsidee über Zweisprachigkeit zu schreiben. Das türkische Schlaflied Sudaki Balıklar wünscht sich Önder als musikalische Untermalung für die szenische Umsetzung, also weiche Lauten-Kläge und samtigen Gesang. Ja, beruhigungsbedürftig sind die Protagonisten eben doch, so selbstbewusst sie sich ihre Sprache und die verloren geglaubte Muttersprache zurückerobern. Wie sie das schaffen und wie sie sich annähern, erzählt eine der schönsten Szenen, wenn die Kinder in einem Bad aus Wörtern schwimmen und dann einzelne Buchstaben in ein Versteck bringen – es sind Buchstaben aus Texten der Mutter.