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Sina Ahlers - Schamparadies
Direkt am Kanal ein Haus. Oben wohnen Mutter und Tochter, ihre finanzielle Lage ist prekär, wenn sich keine Lösung findet, sitzen sie nächste Woche auf der Straße. Unten eröffnen zwei junge Männer ein Suppenrestaurant. Die Gegend ist im Kommen, nur jetzt noch nicht, denken sie. In den Büschen am Kanal zwei Furien, sie sind jung und dennoch längst verbraucht. Die Wege der Sechs kreuzen sich, sie alle haben eines gemeinsam: Wünsche und Fantasien, alles ist heimlich und muss im Verborgenen bleiben. Und doch bricht es aus ihnen heraus, auf der gegenüberliegenden Seite des Kanals, im Schamparadies. Ein Ort wie ein Intimbereich. Alles offen, alles verwundbar. Sina Ahlers wagt sich in ihrem Stück an die Scham; an den Komplex aus körperlicher Schutzreaktion, Angst, Intimität. Was füttert die Scham? Was vermag sie zu besänftigen? Ist Scham politisch?
Sina Ahlers wurde 1990 in Stuttgart geboren. Sie studierte Germanistik und Philosophie in Tübingen und begann ein Masterstudium in Dramaturgie an der Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg, bevor sie in den Studiengang Szenisches Schreiben an die Universität der Künste in Berlin wechselte. Sie ist Gründungsmitglied des Rohbautheater Kollektivs.
Zum Stückporträt: Schamparadies
Autor*innen und Stücke
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Das Stückporträt: Sina Ahlers – Schamparadies
von Anna Landefeld
April 2020. Vera nimmt Anlauf. So wie sie haben es schon andere versucht. Der Kanal ist voller ruhiger Körper, die obenauf liegen, ein Totenfluss. Vera springt. Knallt auf das harte Wasser, taucht wieder auf, die Lungen voll Wasser. Sie will keine der Toten sein. Mit letzter Kraft zieht sie sich an Land. Das Wasser schwallt aus ihren Lungen, mit ihm all die Verletzungen und Qualen ihres noch jungen Lebens. "Wenn ich versuche mich zu erinnern, pulsiert eine Ader an meiner Schläfe. / Großmutter hat immer gesagt, dass man nicht nach hinten denken soll. / Die Vergangenheit sei einem eh immer einen Schritt voraus." Der so verheißungsvolle Sprung (ist es ein Suizid-, ein Fluchtversuch?) in die Freiheit ist ein trügerischer. Vera wird danach durch den Morast ihrer Psyche waten, verzweifelt einen Ausweg aus ihrem Seelenlabyrinth suchen.
Die Autorin Sina Ahlers führt in "Schamparadies" durch ein groteskes Dickicht an Andeutungen und Erinnerungen, die elegant zwischen Realität und Fantasma changieren, zwischen Jetzt und Früher und einem Nochfrüher wagemutig auch innerhalb der einzelnen Szenen hin- und herspringen, bis sich das Ungreifbare dann doch in seiner ganzen Abscheulichkeit erschließt: Hier geht es um eine Vergewaltigung - und um einen erschlagenen Vergewaltiger.
In einem Haus am Kanal lebt Vera mit ihrer kalten, distanzierten Mutter in ärmlichen Verhältnissen unterm Dach. Unten haben Ferdi und Matthias eine Bar aufgemacht, die aber kein Geld abwirft. Die zwei jungen Mädchen Mascha und Tine hängen im Wald ab. Paradiesisch ist das hier alles nicht. Das Kanalwasser ist eine schlonzige Brühe, die Gegenstände mit sich spült, die nie jemand gebraucht hat. Die Figuren sind Insassen einer patriachal-kapitalistischen Gesellschaft, in der Freiheit und ein Versprechen auf Selbstverwirklichung nur scheinbar existieren. Sie sind müde, ernsthaft krank, Gefangene in Leben, auf jeweils unterschiedliche Arten.
Traum vom Ausstieg
Äußerlich ist hier alles okay. Innerlich, da ist es schwarz: Ferdi nimmt es so, wie es kommt, ein pragmatischer Macher, etwas geistesschlicht vielleicht. Er findet, dass man privaten Frust nicht mit politischem verwechseln darf. Sein Lebensziel (und dafür muss er einfach nur feste weiterackern): eine selbst abgefüllte Barbecue-Sauce, auf der seiner und Matthias‘ Name steht. Ablenkung sucht er bei Store-Eröffnungen, bei denen es am Buffet zwölf verschiedene Linsensorten und 30 Chutneys gibt. Matthias wiederum hat keinen Bock mehr auf solche Hipster-Scheiße (weiße Räume, in denen man Kaffee bestellt, Magazine mit "bomben Haptik"). Er träumt davon auszusteigen (mit Ferdi, in den ist er heimlich verliebt, was er selbst "pervers" findet) und in der Altmark auf einem alten Schlachthof mit Radieschenpflanzen neu anzufangen.
Ferdi und Matthias sind fleischgewordenes Berlin-Mitte, ideenlose Mittelstandskinder, von Sina Ahlers scharf ge-, fast überzeichnet. Sie entblößt die pseudo-tiefsinnige Belanglosigkeit der beiden. Zurück zur Natur wollten sie, aber Ferdi und Matthias landeten nicht in einem neuen, sondern wieder im alten Paradies. "Brennst Schnaps aus Kräutern der Region. / Bei dir rentiert sich noch das Aussteigen.“ Sie wollen nicht so werden wie ihre Eltern und doch: "Wirst mal ein Liebespaar mit einem Mädchen sein, weil du den Steuersatz magst." Wie schön Hässliches bei Sina Ahlers klingt.
Marieluise Fleißer lässt grüßen
Ohnehin sind ihre Sätze verwunderlich geschnitzte Sprachgebilde, in denen lakonische Prosa und lyrische Wut aufeinanderprallen, so dass alles verbogen und verbeult ist. Ganz stark erinnert das an eine fast Vergessene, an Marieluise Fleißer in einer Millennial-Edition. Knallhart mischt Sina Ahlers Realismus und Expressionismus, Bildhaftes mit unfertiger Direktheit. So wie bei den Begegnungen zwischen Vera und Matthias. Die erste ist ein leidenschaftlicher, einvernehmlicher Liebesakt, den Ahlers mit der kindlichen Überraschung eines Tierfilmers in seiner ganzen animalischen Herrlichkeit beschreibt: "Da! Schießt eine Forelle durchs Deckwasser! / Schraubt sich durch den Guss. Sie springt hoch! So hoch kann eine Forelle springen? Über sich selbst hinaus." Die Schamhaare sind dabei "schwere Halme" und "nasse Ähren". Doch aus dem Reigen aus springenden Forellen, hochfliegenden Habichten und wogendem Getreide wird ein eiskaltes Verbrechen: Matthias packt sie im Genick. "Du sollst eine Fantasie von mir haben. / Es hört dich hier keiner. / Fotze". Warum er Vera vergewaltigt, erfährt man nie. Sina Ahlers verzichtet darauf, die Täterpsyche zu ergründen. Matthias wird tot sein. Er stirbt, weil Vera es sich vorstellt, während er sich an ihr vergeht: "Es ist so kalt, dass jede Berührung weh tut. / Dann schlägt dir ein Stamm ins Gesicht, du wirst bewusstlos.“ Und Vera, die versteht nicht, was ihr widerfahren ist. Sicher bleibt ihr nur das Trauma.
Sina Ahlers schickt sie zu Mascha und Tine, zwei Mädels, die einander im Wald ihre Vulven und "Schamlappen" zeigen und am Ufer engumschlugen einschlafen. "Furien" nennt sie Ahlers. (Die dritte, die noch fehlende, wird bald Vera sein.) Doch Mascha und Tine sind keine rasendwütenden Rächerinnen, sie sind Heilerinnen, wenn sie Vera im Arm wiegen, ihr dabei helfen, das zu formulieren, was im Wald geschah: "Jemand hat was an mir missbraucht." "Und was war weiter?", fragen die Furien. Veras Antwort fällt nicht erwartbar aus. So wie in Ahlers "Schamparadies" alles auf eine düstere, aber magische Art ganz anders ist.