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Johanna Kaptein - un.orte
Eine Psychiatrie, ein Jobcenter, ein Gefängnis: Drei Institutionen, in denen unsere Gesellschaft Menschen verwaltet, die aus den normalen Raster fallen. Drei Orte, an denen die wenigsten sich entspannt, gern oder länger aufhalten, »un.orte«, die dem einzelnen Menschen leicht das Gefühl geben, nichts zu sein – keine gefestigte Persönlichkeit und kein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft. Das Stück von Johanna Kaptein findet eine besondere sprachliche Form für die Erfahrungen von Zersplitterung des Ichs in den verschiedenen Institutionen. Es überführt die Fragmente der Sprechenden schließlich in einen fragilen, neuen Raum.
Johanna Kaptein, 1974 in Hamburg geboren, verfasst Dramatik, Hörspiele und Prosa. Auf das Studium Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin folgten Einladungen an das Royal Court Theatre in London, das Burgtheater Wien und das Badische Staatstheater Karlsruhe. Sie erhielt das Thomas-Bernhard-Stipendium des Landestheaters Linz und den Leonhard-Frank-Preis des Mainfranken Theaters Würzburg und der Leonhard-Frank-Gesellschaft. Johanna Kaptein lebt in Berlin.
Autor*innen und Stücke
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Das Stückporträt: un.orte – Johanna Kaptein
von Falk Schreiber
April 2020. Ein Unort ist ein Raum, der seine Bezüge zum Menschen verloren hat. Ein Durchgangsort, der nur durchquert werden will, ein ausschließlich auf Verwertungslogik hin konzipierter Ort, ein Ort, der kalt ist und abweisend. Für das Theater sind Unorte seit einigen Jahren auf der Ebene des Bühnenbilds reizvoll: die abweisenden Funktionsräume, die Alex Eales für Katie Mitchells bedrückende Charakterstudien zerfallender Menschlichkeit baut. Paula Wellmanns kalte Lautsprecherbühne zu Ersan Mondtags Inszenierung von Orhan Pamuks "Schnee" am Hamburger Thalia Theater. Die verschachtelten, undurchschaubaren Theaterirrgärten von Signa. Aber: Diese theatralen Unorte bleiben auf die jeweiligen Inszenierungen bezogen, in den Stückvorlagen tauchen sie nicht auf.
Rastlose Bewusstseinströme
Johanna Kaptein, geboren 1974 in Hamburg, Absolventin des Studiengangs Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste und preisgekrönt für "Die Geschichte von St. Magda" (Stückepreis der Schaubühne Berlin 2005) und "BRD-Fragmente" (Leonhard-Frank-Preis des Mainfranken-Theaters Würzburg 2009) hat entgegen dieser Tendenz zur Verunortung in der Inszenierung schon im Text drei "Un.orte" skizziert: eine Psychiatrie, ein Jobcenter, ein Gefängnis. Orte, die eng verbunden sind mit Zwang, mit eingeschränkter Bewegungsfreiheit, mit Aufgabe der individuellen Autonomie. Kaptein schreibt innere Monologe an diesen drei Orten, rastlose Bewusstseinsströme, aufgeteilt in mehrere Sprecherpositionen, die von unterschiedlichen Schauspieler*innen dargestellt werden können, aber nicht müssen. In der ersten Szene, der Psychiatrie-Szene, sieht das dann so aus:
"- ich höre nichts / - Höre ich mich? / - Wie ich mich anhöre! / - HÖRST DU MICH? / - ICH / - ICH / - ich / - weiß nicht weiter ich / - bin nicht mehr ich / - heule / - wenn die Waschmaschine schleudert / - damit es niemand hört / - wie ein Tier".
Schon in dieser kleinen Passage wird klar, was dieser Text dem Theater für Möglichkeiten eröffnet. Die Sätze können in verteilten Rollen gesprochen werden, können chorisch gesprochen werden, sie gäben auch einen atemlosen, rhythmisch strukturierten, inneren Monolog her. In jedem Fall bleibt die absolute Hoffnungslosigkeit der Aussage "Ich (…) heule, wenn die Waschmaschine schleudert, damit es niemand hört, wie ein Tier“ bestehen, die Musikalität des Textes ist die eines todtraurigen Blues.
Die zweite Szene in der Arbeitsagentur ist im Vergleich dialogischer gestaltet, hier sind eigentlich zwei Darsteller*innen Pflicht (wobei eine geschickte Regie auch hier mit einer Person auskommen würde):
"Ja, wissen Sie / - ich hab da mal was / - im Theaterbereich gemacht / - hab so was studiert / - hab da so gearbeitet / - immer von einem Engagement / - zum Nächsten und wieder / - zum Nächsten / - zum Nächsten / - zum / - na, dann eben nicht mehr / - zu keinem dann mehr / - jetzt bin ich Mitte dreißig und – / - ich hab doch mal studiert! / - ICH HAB DOCH MAL STUDIERT? / - UND DANN GEARBEITET! / - Ja, schön, ja / - welcome to reality".
Die letzten beiden Zeilen machen diese zweite Szene entsprechend zum konventionelleren Theater, in der verständnislosen Ignoranz des Behördenmitarbeiters, die der gegenübersitzenden Leistungsempfängerin ihre Machtlosigkeit vorführt. Aber: Es ist faszinierend, wie genau Kaptein die innere Dynamik solcher Gespräche abzubilden versteht! Die Selbstbehauptung im gebrüllten "Ich hab’ doch mal studiert", die ungebremst gegen die Wand fährt, wo sie auf ein lapidares "welcome to reality" stößt! Der Unort Arbeitsagentur mag ein durch den traditionell aufgebauten Text verhältnismäßig offensichtlich gewonnener Unort sein, aber die Strukturen, die hier wirken, sind skandalös, weil sie ausschließlich auf Macht und Ohnmacht beruhen. Anders als in der Psychiatrie, in der die Traurigkeit und die Hoffnungslosigkeit des Geschilderten in einer inneren Störung der Figur liegen, geht es hier ausschließlich um Machtdemonstration, um Demütigung, um Qual. Ein Unort par excellence.
Innere Störung
Die dritte Szene geht formal einen Schritt zurück zum Anfang: Hier ist wieder ein einzelner Protagonist (und dass es diesmal ein Mann ist, im Gegensatz zu den geschlechtlich unbestimmten Charakteren zuvor, lässt sich aus einzelnen Formulierungen schließen), der die Zellenwand anbrüllt:
"- zur Abschreckung / - bin ich jetzt hier / - zehn Quadratmeter /- ein Fenster / - Panzerglas / - Pritsche / - Waschbecken und Klo / - gekachelt."
Mag sein, dass das Stück im dritten Anlauf eine Tendenz zur Aufzählung aufweist, dass man erwarten könnte, vielleicht noch eine, zwei, drei weitere Szenen mit weiteren Unorten zu lesen, einen Autobahnzubringer vielleicht oder einen Wartesaal. Aber: Die dritte Szene ist wichtig, weil Kaptein hier neben sich tritt, weil der Protagonist zwar alleine agiert, dabei aber seine eigene Sprecherposition hinterfragt. "MEINE MUTTER! / - HÖREN SIE! / - IHR NUTTEN MEINE MUTTER IST SCHULD HURENBÖCKE VERDAMMTE! / - (Jaja, so reden wir im Knast. Aber ich nicht.)“, das ist nicht nur Abbildung persönlicher Machtlosigkeit, hier offenbart sich auch eine Sprache, die sich ihrer selbst nicht mehr sicher ist.
Zustand der Sedierung
Es folgt ein Epilog, "Schluss" betitelt. "- Ich spreche nicht, ich schlafe, ich träume, ich / - habe doch gar keine Diazepam bekommen" heißt es hier, anscheinend befinden wir uns in einem Zwischenreich zwischen Wachen und Schlafen, in dem Medikamente verabreicht werden (wenngleich die sprechende Figur wohl keines bekam). Nichts ist mehr sicher, nicht, wer spricht, nicht die eigene Wahrnehmung. Im Grunde ist dieser Schluss eine kurze vierte Szene, die wahrscheinlich ein medizinisches Institut beschreibt, allerdings in einer Sprache, die sich selbst im fortgeschrittenen Zustand der Sedierung befindet. Literarisch ist das geschickt gemacht, und wie so oft, wenn Texte überaus dicht und durchkomponiert sind, liest sich das beeindruckendend, findet dann aber nur schwer eine adäquate Entsprechung auf der Bühne.
Bei "Un.orte" bieten sich verhältnismäßig viele Umsetzungsoptionen an. Was vor allem an der Figurenzeichnung liegt: Kaptein macht hier praktisch keine Vorgaben, weder die Anzahl der Schauspieler*innen ist genannt, noch die Geschlechterverteilung (auch wenn es Andeutungen gibt), im Grunde ist hier vieles möglich – ein Ein-Personen-Stück ebenso wie ein Ulrich-Rasche-haftes Monumentalwerk, das auf das Pathos der Masse setzt. Interessant, dass die Vorstellung jeder möglichen Variante einen gewissen Reiz hat. Allerdings wäre zu wünschen, dass die Ausstattung es schafft, das Image des Unorts nicht einfach zu doppeln. Viel Beton, Neonlicht, verlorene Menschen vor brutalistischem Bühnenbild – so etwas würde natürlich im Theater funktionieren, so wie es im Theater seit Jahren schon funktioniert. Aber wenn dieser interessante, kluge Text eine Ausstattung finden würde, die sich mit dem Inhalt beißt, dann könnte Kapteins spannende Vorlage auch einen spannenden Theaterabend zur Folge haben. Einen unbehaglichen, verstörenden Theaterabend. Man will den sehen.
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Wer Lust hat, kann es hier nachhören:
https://soundcloud.com/user-934508532/unorte